Der Oktopus in uns
Theater Pozzi zeigt "Fühle mich" in der Schulstraße 1A

Wie es sich anfühlt, eine Fledermaus zu sein, hat der Philosoph Thomas Nagel einmal gefragt und einen Essay über die Theorie des Bewusstseins geschrieben. Das Theater Pozzi nimmt sich eine andere Tierart, nämlich den Tintenfisch, vor und konzentriert sich nicht so sehr auf die philosophischen Grenzen des Einfühlens als vielmehr auf dessen heitere Folgen. Jenny Tindal und Klaus-Joachim Schaier werden zu multiplen Persönlichkeiten. Sie spielen in neunzig Minuten zweiund-zwanzig Rollen und schlüpfen unter siebzehn handgefertigte Masken.

"Fühle mich" ist der Titel dieses traumwandlerischen Thea-terabends. Waldemar Wettach, Professor am "Institut für angewandte Gefühlsregungen", nimmt ihn wörtlich. Er hat über den Oktopus promoviert und imitiert dessen Bewegungen, als wüchsen an Stelle seiner Arme Tentakel: "Auch in jedem von Ihnen steckt ein Oktopus. Und Sie können ihn fühlen." Dies ist nur eine der zahlreichen Rollen, in die Schaier schlüpft, diesmal mit einem Toupet auf dem Kopf und selbstverliebter Gestik. Hertha Gräfin von Sotollski, verkörpert von Tindal, verbindet mit ihrer "Akademie des Fühlens" eine Mission. Sie will, dass die Gefühle nicht länger unter Verschluss gehalten werden.

Hinter einer schwarzen Leinwand verschwinden die Darsteller und tauchen in neuen Rollen wieder auf. Die losen Szenen bauen nicht aufeinander auf und sind kleine, gut beobachtete Charakterstudien etwa eines Hausmeisters oder eines ängstlichen Mädchens. In Alltagsszenen werden nicht alltägliche Gefühle gezeigt, etwa der gedemütigten Ehefrau, die sich beim Arztbesuch den Ballast von der Seele redet. Diese Szenen spielen hinter grotesken Masken, die den tieftraurigen, erstaunten oder verliebten Gesichtsausdruck so überformen und einfrieren, dass es eine Lust ist, sich in die verzerrten Gesichtszüge, die weit aufgerissenen Augen oder die schiefen Münder zu vertiefen. Vielleicht weiß man am Ende dieses Abends immer noch nicht, wie es sich anfühlt, ein Oktopus zu sein. Aber immerhin, dass es durchaus erstre-benswert wäre, sich in ihn einzufühlen.

KULTUR Frankfurter Allgemeine Zeitung
19.November.2007, Nr. 269, S. 44

rsch.